Ich werde immer wieder gebeten, meinen Stil der Fallaufnahme und der Fallanalyse zu beschreiben. Ich habe kein starres Raster oder eine immer gleiche Struktur der Anamnese. Ich «fliesse» immer mit dem Patienten und versuche seinen Kern zu erfassen.
Jeder Patient zeigt uns individuell, wo wir mit der Befragung beginnen können. Deshalb ist es schwierig für mich zu beschreiben, wie ich beobachte, analysiere und verschreibe. Aus meiner Sicht ist es überhaupt nicht möglich, mit einem einzigen «Schema oder Stil» die Grösse der menschlichen Natur und ihrer Seele, sowie ihr Verhalten zu erfassen. Alle Menschen sind doch so verschieden in ihren Aktionen, Reaktionen, im Denken und in ihrem Wesen.
Dies verleitet uns oft, Regeln oder Strukturen zu verwenden, um uns die Arbeit zu erleichtern. Die Schönheit ist es jedoch, dass jedes Auge das wechselvolle Verhalten differenziert und individuell wahrnehmen kann. Die eigene Intuition muss stets wachsam und einsatzbereit sein. Es ermöglicht uns, den Menschen wirklich zu verstehen. Höhenflüge, aber auch das Eintauchen in die menschliche Seele kann man nur annähernd beschreiben. Die Kapazität des «Fliegens oder Eintauchens » variiert von Homöopath zu Homöopath. Diese Art der Anamnese bietet Spielraum, der erlaubt, die Fallaufnahme jederzeit auf jeden einzelnen Patienten anzupassen. Somit darf es keinen starren Rahmen geben. Wir können die Menschen nicht alle in gleiche Raster einsortieren.
Schon während meiner Studienzeit hatte ich immer den Traum von einem unabhängigen Stil gehabt. Dieser Traum ging in Erfüllung, als ich bei meinem Lehrer, Dr. B. K. Bose, studieren und lernen durfte. Er war ein Meister Homöopathie mit einem enormen geistigen Repertorium, sein Können lag jenseits von unseren Vorstellungen. Diese Kunst der Fallaufnahme lernte er persönlich bei Dr. Kent kennen. Dr. Bose lernte sehr schnell und vermehrte sein Wissen durch das ständige Studium der Menschen. Er war bereits im 80. Lebensjahr, als ich bei ihm zu studieren begann. Sein Anblick bleibt mir für immer erhalten. Er hatte einen zerbrechlichen, gebeugten Körper, aber seine Augen, durch dicke Brillengläser blickend, waren kraftvoll und fesselnd. Dr. Bose besass eine unerschöpfliche Energie und Ausdauer, die er aus seiner wagemutigen und positiven Persönlichkeit generierte. Sein Lächeln war rein, ehrlich und unverdorben. Seine Stimme war wie seine Augen, ausdrucksstark und kräftig. Von all den anderen Eigenschaften war sein immer aktives «Dritte Auge» wohl die wichtigste. Er konnte so tief in die Seele eines Menschen blicken, dass sich viele Patienten sehr scheu verhielten. Er sah viel mehr von den Menschen, als nur ihr Äusseres, sprich ihre Kleider oder ihre gespielte Fassade. Viele weibliche Patientinnen, die sich als sehr weiche, sanfte und jammernde Pulsatilla-Typen präsentierten, erhielten trotzdem Natrium muriaticum. Seine Freiheit und Fähigkeit zu „fliegen“ und sich in den verschiedensten Aspekten und Schichten der Krankheit zu bewegen ist unübertroffen. Er schreckte selbst vor den schwierigsten und hoffnungslosesten Fällen nie zurück. Auch der Tod eines Patienten gehörte für ihn zum Leben. Er fragte uns oft ironisch: «Sterben Patienten unter schulmedizinischer Behandlung denn nie?» Er war der geborene Philosoph, der bis zu seinem Tode selber lebte, was er andere lehrte. Er sagte: «Es gibt keinen Weg am Tode vorbei. Lebt mit der Wahrheit, kämpft für sie und gebt euer Leben für sie. Die Wahrheit ist von aussen betrachtet oft überhaupt nicht attraktiv und charmant. Tief im Innern ist jedoch immer der Quell der göttlichen Kraft sichtbar.» Er war ein Lehrer für alle. Seine Art ein Mittelbild zu präsentieren war genial. Es war, als ob der Patient live vor uns stehen würde. Ich kann mich immer noch an das Gesicht des kratzenden Sulfur-Typen erinnern. Ich konnte dadurch bei vielen schwierigen Fällen Sulfur erkennen und erfolgreich verschreiben.
Sein Wissen wagte er in einer für uns oft seltsamen Art und Weise anzuwenden. Das heisst, er gab einem hitzigen Patienten Psorinum und Natrium muriaticum einer sehr frösteligen Patientin. Er besass eine enorme mentale Stärke, die durch seine Weisheit verstärkt und genährt wurde. Er faszinierte mich immer wieder durch seine meditative Konzentrationsfähigkeit, die er bei jedem einzelnen Patienten zeigte. Das Studium der Homöopathie, das mir einmal den Lebensunterhalt sichern sollte, wurde durch seine Segnungen zu meinem Lebenszweck.
Manchmal war ich von seiner Art zu praktizieren fast geschockt. Er war oft nicht berechenbar, wirkte auf uns verwirrend, und dabei doch so einfach und effizient.
Durch seinen Stil erhielt ich auch sehr viele Inputs für mein eigenes Leben. Viele Erfahrungen liessen und lassen mich wachsen, nicht nur in meiner fachlichen, sondern auch in meiner persönlichen Entwicklung. Ich lernte durch meinen Lehrer, dass nicht nur der Patient behandelt sondern auch der Homöopath mitbehandelt wird. Der Patient ist oft ein Spiegel für den Therapeuten. Ich lerne bei jedem Patienten über die Homöopathie, die Natur und über mich selber weiter.
Mein Stil ist eine künstlerische, intuitive Art der Fallaufnahme, die auf fundierten Homöopathie-Kenntnissen basiert. Zu vergleichen am ehesten mit einem Maler, der die Technik der Malerei so gut meistert, dass er wider aller Lehren bei seiner Kunst unkonventionell und bei jedem Bild anders vorgehen kann; oder mit einem gewandten Musiker, der frei improvisieren kann.
Bei der Homöopathie ist es nicht anders. Zuerst kommt das Lernen der Grundprinzipien der Homöopathie, des Organons und der Materia Medica. Dann der richtige und gezielte Umgang mit dem Repertorium. Ein sehr fundiertes Studium ist notwendig, um auf dem Meer der Homöopathie einigermassen frei navigieren zu können. Das Organon ist der Kompass, die Arzneimittellehre das Schiff und das Repertorium das Beiboot. Erst dann kann man der eigenen Intuition mehr und mehr Vertrauen schenken.
Ich entdecke die Rubriken überall. Im Verhalten des Patienten, seinen Bewegungen, Reaktionen, Erklärungen und Aktionen. Wenn der Patient von Natur aus hitzig war, aber nach einem Schock oder nach einer Krankheit fröstelig wurde, so wähle ich oft das Mittel für die Konstitution vor diesem Ereignis. Ich verschreibe die Arznei frei von Seiten- oder Ortsbezug. Wenn ich Pulsatilla konstitutionell verschreibe, kümmert es mich nicht, ob sie durstlos ist oder eine Aversion gegen Fett hat. Solche Rubriken tieferen Wertes werden automatisch korrigiert, sobald das innere Gleichgewicht wieder hergestellt worden ist. Es stört mich nie, wenn das Mittelbild nicht alle Symptome des Patienten abdeckt. Ich kann meine Verschreibung jedoch immer begründen und in der Materia Medica bestätigen. Manchmal verschreibe ich Lycopodium für linksseitige Beschwerden. Die Wirkung ist jedes Mal erstaunlich. Der Patient, welcher vergessen hat, dass er zuvor auf der rechten Seite dieselben Beschwerden gehabt hat, wird durch die Reaktionen auf das Mittel wieder daran erinnert. Meistens verschreibe ich auf Grund von drei bis vier Symptomen oder Beobachtungen. Auslöser, Miasmen, Allgemeinsymptome (mentale und körperliche) haben den höchsten Stellenwert. Einer Frau in der Menopause, geschwätzig, mit linksseitigen Beschwerden und sackartigen, wallenden Gewändern, würde ich, falls sie sich früher während der Menstruation deutlich besser fühlte, Lachesis geben. Es gibt unzählige Fälle von Ovarialzysten, Tumoren und Depressionen die mit dieser Art der Verschreibung von Lachesis geheilt wurden. Ich liebe es, den Patienten in seinem natürlichen Verhalten zu beobachten. Dr. Bose zeigte mir wie wichtig das ist. Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem ich ihn auf einem Hausbesuch begleiten durfte. Sein Patient, ein Prinz „aus der guten alten Zeit“, litt an Neuralgien, Angst-Neurosen und Schlaflosigkeit. Wir warteten auf ihn in der Empfangshalle seiner Residenz. Als er die Treppe herunterkam, blieb er plötzlich stehen und korrigierte die Ausrichtung eines Bildes, das sich vielleicht um Haaresbreite verschoben hatte. Danach kam er zu uns herunter, um uns zu begrüssen. Mein Lehrer hatte das Mittel bereits gewählt und verabreichte ihm Arsenicum album XM. Seine Neuralgien verschwanden innerhalb weniger Tage. Auch die anderen Symptome verbesserten sich schrittweise innerhalb weniger Monate. So liefert uns jeder Patient seinen individuellen «Schlüssel», respektive Zugang zu seinen Leiden.
Ich lege viel Wert auf das Eruieren des Auslösers. Um eine Heilung zu erreichen, muss die Ursache von Anfang bis zum Ende beseitigt werden. Die Totalität der Symptome kann nicht beseitigt werden ohne die Berücksichtigung der Ursache.
Die mentalen Symptome, Reaktionen des Patienten auf die Ereignisse des Lebens sind mir sehr wichtig. Selten lasse ich mich in meinen Beobachtungen durch einige körperliche Symptome minderen Wertes verwirren. Die Mental- und Allgemeinsymptome sind viel wichtiger als die lokalen. Dies zumindest bei chronischen Fällen. Bei akuten Fällen nehmen die Lokalsymptome eine wichtigere Rolle ein. Der Name einer Krankheit oder die Wichtigkeit eines Organs bringen mich nie aus der Ruhe. In jedem Fall setze ich die Prioritäten anders. In einigen Fällen suche ich die Causa, bei anderen verschreibe ich über die Modalitäten oder basiere mein Rezept auf den Farben einer Ausscheidung oder Absonderung. Ich benutze nie dieselben Parameter, deshalb kann ich jeden Patienten individuell betrachten. Ich benutze keine standardisierte Vorgehensweise oder Fragenkataloge, sondern befrage jeden Patienten individuell mit auf ihn zugeschnittenen Fragen oder Bemerkungen. Ich beurteile stets selbst, ob die Aussagen der Wahrheit entsprechen oder nicht. Der plötzlich traurige Ausdruck des Patienten, die feinen Muskelzuckungen beim Beantworten einer Frage oder das künstlich aufgesetzte Lächeln sagen oft mehr als Worte. Auch die Art und Weise wie die Mutter mit ihrem Kind umgeht, integriere ich in meine Anamnese.
Ich beobachte jeweils genauestens die Reaktionen während der Befragung, ob es den Patienten angenehm ist oder nicht. Ich entdecke selbst den besten Schauspieler. Ich gebrauche alle meine Sinne und Gaben um den Menschen zu spüren und zu berühren. Dies zeigt sich speziell dann, wenn ich chronische, komplizierte Fälle behandle. Zieht sich ein Patient während der Befragung zurück, schützt er sich an der «Eingangstüre», versuche ich sogleich an der «Hintertüre» den Zugang zu finden. Ich verlasse das heikle Thema, gehe über zu einfachen Fragen, wie z.B. Essgewohnheiten und fahre so fort bis der Patient sich entspannt hat. Dann komme ich auf das heikle Thema zurück, aber von einer anderen Seite. Ich bin extrem hartnäckig bei meiner Befragung und lasse nicht los, bis ich sicher bin, den Patienten richtig erfasst zu haben. Das bin ich den Patienten und der Homöopathie schuldig.
Die Miasmen sind eine tragende Säule meiner Methode. Sie sind Teil der wahlanzeigenden Symptome und helfen bei der Mittelwahl. Sie dienen dazu, dass der Homöopath, wie auch der Patient die Geschichte des Patienten (Chronologie des Falles) und die Reise seiner Krankheit verstehen.
Manchmal kann bei der Fallaufnahme kein klarer Auslöser gefunden werden oder das Symptomenbild ist unklar und führt zu keinem klaren Similimum. In solchen Fällen hilft uns oft das Verständnis der Miasmen. Es wird eine Analyse der Patienten- sowie der Familienanamnese sowie der gegenwärtigen Symptome gemacht. In Fällen bei denen mehrere Miasmen vorherrschen wird eruiert, welches Miasma im Moment vorherrscht (aktives Miasma). In chronischen Fällen, bei denen mehrere Miasmen aktiv sind, sollte die Behandlung mit einer antipsorischen Arznei sowohl begonnen als auch abgeschlossen werden. Desweiteren ist ein tiefgründiges Verständnis der Miasmen unerlässlich damit die Reaktionen des Patienten auf die Arzneimittel besser bewertet werden können. Sie sind wichtig für die Verlaufsbeurteilung und den Entscheid für die nachfolgenden Verschreibungen.
Ich liebe es, mit allen Potenzen zu arbeiten, von der Tinktur bis zur CM und benütze sowohl D-, C-, wie auch LM-Potenzen. Einmal bat ich meinen Lehrer um einen ungefähren Rahmen zur Verschreibung der Potenzen. Er antwortete mir: «Diese Entscheidung überlasse ich dir. Ich will dich nicht durch starre Normen einengen. Gebrauche deine Intuition, lerne von ihr. Dann wirst du dein eigener Meister und bestimmst die Potenz selber.» Er hatte Recht und deshalb wird die Potenz immer auf den Patienten abgestimmt.
Die Nosoden gehören wie die anderen Mittel ins Repertoire eines Homöopathen. Ich gehe jedoch auch mit ihnen nicht konventionell um. Ich beginne oder beende häufig eine Behandlung durch ihre Verschreibung. Wichtig ist auch die individuelle Beratung. Es genügt nicht, einfach ein Mittel zu verschreiben. Dem Patienten sollte bewusst gemacht werden was ihm nicht gut tut und was ihn krank macht. Es liegt in unserer Verantwortung ihn darauf aufmerksam zu machen, wie er durch seine Lebensweise den Genesungsprozess aktiv beeinflussen kann. Denn eine treffende Beratung ist oft der zündende Funke auf dem Weg zur Gesundheit. Ich bin immer sehr gewissenhaft und genau im Umgang mit den homöopathischen Prinzipien. Ich betrachte das «Homöopathische System» als perfekt und genial. Das Minimum, das ich als Anwender als Zeichen von Anerkennung und Respekt tun kann, ist dem Satz von Hahnemann möglichst gut zu folgen: «Mach’s nach, aber mach’s genau nach».
Wenn ich sehe oder spüre, dass es dem Patienten mental besser geht, dann lasse ich seine Lebenskraft sofort in Ruhe und lasse von einer weiteren Mittelgabe ab. Ich informiere den Patienten auch deutlich darüber, dass er diese Symptome zum Wohle seiner Gesundheit besser nicht unterdrücken soll. Dieses feine Verständnis für die Lebenskraft muss jeder Therapeut entwickeln, damit er keine Symptome unterdrückt. Als Beispiel dient mir Dr. Bose, der diesem Prinzip sein Leben lang folgte. Seit seinem 30. Lebensjahr waren seine Beine von einem Ekzem bedeckt. Er stoppte seine eigene Behandlung als er bemerkte, dass dadurch seine Atmung und Ausdauer beeinträchtigt wurde. Er blieb darin standhaft bis zu seinem Tode. Hat der Homöopath den feinen und zugleich grossen Unterschied zwischen Heilung und Unterdrückung verstanden und schafft dies, in der Praxis umzusetzen, so hat er die besten Voraussetzungen, um ein erfolgreicher Verschreiber zu werden.
Ich selbst praktiziere jetzt seit 1969. Mein Studium geht jedoch immer noch weiter, ich lerne jeden Tag dazu. Ich bin dem Weg meines Lehrers gefolgt und habe ihn weiterentwickelt. Es ist ein sehr praktischer, effizienter und kunstvoller «Stil». Es braucht dafür ein gutes Studium der Materia Medica, der Miasmen und der Grundlagen. Wenn man das geschafft hat, muss man nur noch die beiden Bilder – das des Menschen und das des Mittels- zusammenfügen. Ich benutze das Repertorium in schwierigen Fällen, um Rubriken nachzuschlagen. Ich habe auch die Angewohnheit das Repertorium zu lesen und dadurch mein mentales Repertorium zu vergrössern. So habe ich die Rubriken präsent, wenn ich sie benötige. Auch Dr. Kent vertraute in seiner täglichen Arbeit mit den Patienten nicht ausschliesslich den Büchern. Er selbst gab dabei den persönlichen Beobachtungen den höchsten Wert. Deshalb waren auch seine Verschreibungen so ganzheitlich, treffend und effizient. Im Vorwort zu seinem Repertorium warnte er uns davor, nur das Repertorium entscheiden zu lassen. Bücher helfen uns, aber entscheiden müssen wir mit unserer ganzen Weisheit immer selber. Die höchste Kunst des Verschreibens sollte im «intuitiven Zentrum» erfolgen. Die Arbeit jeden Patienten individuell zu betrachten ist eine Herausforderung.