Dr. Inderjeet Kaur Jus ist die jüngste Schwester von Dr. Jus und selber Homöopathin. Sie lebt in Australien, wo sie eine eigene Praxis führt. Trotz der grossen Distanz stand sie immer in engem Kontakt zu ihrem Bruder.
Was ist Homöopathie? Was ist das wirklich?“ fragte ich meinen grossen Bruder.
Wir waren in unserem Wohnzimmer in Neu-Delhi. Es war ein Zimmer, das grosse Fenster hatte, durch die die Sonnenstrahlen am Nachmittag einströmten. Er lächelte, sah nachdenklich zu mir hinüber und überlegte sich eine geeignete Antwort. Der freundliche und liebevolle Blick, den er mir mein ganzes Leben lang geschenkt hatte, fiel auf mich. Ich wartete. "Die Homöopathie ist eine Heilwissenschaft, eine Kunst, die Krankheiten durch die Wiederherstellung des Gleichgewichts von Körper, Geist und Seele heilt. Sie tut dies, indem sie einem Wesen hilft, sich selbst zu helfen". Ich verstand alles, bis auf den letzten Teil. "Was meinst du damit?", fragte ich.
Er lächelte wieder und fuhr dann fort. "Jedes Wesen, das unwohl oder aus dem Gleichgewicht geraten ist, versucht sich selbst in einen Zustand des Gleichgewichts zurückzubringen. Jeder Patient, der einen Arzt aufsucht, tut dies, damit der Arzt helfen und hoffentlich die Krankheit beseitigen kann, die das Ungleichgewicht im Patienten verursacht hat."
Ich dachte über diese Aussage nach und wartete darauf, dass er weiterfuhr. "Krankheit ist daher ein Zustand, welcher der Arzt oder Heiler zuerst durch Befragung erfasst. Dann versucht er durch das Auswählen der richtigen Behandlung das körpereigene Immunsystem so zu stimulieren, dass Heilung erzielt wird".
Ich war mir jedoch etwas unsicher, wie es genau funktionierte, und mein fragender Blick muss ihn veranlasst haben, fortzufahren. "Liebe Schwester, Unwohlsein oder Krankheit, ist nur eine Stimme, die versucht, uns etwas zu sagen. Es hört sich, für diejenigen, die Ohren haben um zuzuhören, wie ein verstimmtes Instrument an. Was sich im Körper oder im Geist manifestiert, ist ein Schrei des Wesens nach Hilfe, und es ist der einzige Weg, dem Heiler zu zeigen, was falsch ist und welche Hilfe angezeigt ist. Die Homöopathie ist wie ein Spiegel, der ohne Voreingenommenheit oder Vorurteile den genauen Zustand des Patienten anzeigt. Der Spiegel der Homöopathie zeigt dem Homöopathen jedoch nicht nur das, was auf der Oberfläche sichtbar ist; der Spiegel zeigt auch, was darunter passiert und welche Gedanken den Geist der Person durchdringen, oder mit anderen Worten, welchen Kampf dieses ganze Wesen durchmacht".
Ich sah ihn jetzt mit Ehrfurcht an und begann die Tragweite seiner Worte zu verstehen. "Für diejenigen, die die Wissenschaft der Homöopathie gelernt haben und die Augen und Ohren entwickelt haben um das wahre Wesen eines Patienten zu erfassen - vor ihnen kann keine Krankheit vollständig verborgen bleiben. Der Patient spiegelt alle Merkmale, alle Hinweise, alle Anzeichen seines Ungleichgewichts auf den Homöopathen wider. Dieser gelangt durch einfaches Beobachten, Befragen, Aufzeichnen und Analysieren zur Wurzel des Problems und wählt ein homöopathisches Mittel aus, das imstande ist das Gleichgewicht und damit die Gesundheit wiederherzustellen".
Ich war damals 15 Jahre alt. Die Magie dieser Wissenschaft und die Einfachheit ihrer Kunst haben mich tief beeindruckt. Zum Schluss sagte er noch: "So wie schöne Musik die Seele bewegt und uns aufstellt, ist die Homöopathie die Musik, die den Lärm und das Geschrei der Krankheit bezwingt. Aber diese Töne müssen mit Wissen, mit wahrer Überzeugung und Verständnis gespielt werden, damit die unharmonischen und unausgewogenen Töne korrigiert und behoben werden. Die Homöopathie ist also die perfekte Symphonie der Harmonie".
Ich fühlte mich, wie wenn mir ein Schleier vor den Augen weggezogen worden wäre. Wenn die Wahrheit gesprochen wird, was ja selten geschieht, ist ihre Wirkung auf ein Individuum und auf sein Leben majestätisch. "Die Wahrheit ist schliesslich die ultimative Quelle aller Heilung." Ein weiterer Satz, den er später einmal zu mir gesagt hat, und den ich von da an tief in mir verinnerlicht hatte.
Mein Bruder war nicht von sich aus zu solch erleuchteten Gedanken gekommen. Sie waren dort von klein auf von seinem Vater gesät worden. Als Dr. Jus jung war, hatte sein Vater einen Homöopathie Kurs absolviert, nachdem er die Homöopathie als das beste Heilsystem für seine eigene Familie befunden hatte. Er wurde durch die erfolgreiche Behandlung seines ersten Falles in seiner Überzeugung gestärkt.
Ein Paar hatte sich mit seinem 5-monatigen Kind an ihn gewandt, nachdem sie erfahren hatten, dass Dr. Jus Vater eine kostenlose homöopathische Praxis für arme Leute führte. Das Baby hatte einen unverhältnismässig grossen Kopf und grossen Bauch mit dünnen, spindelförmigen Gliedmassen. Ein typischer Fall von Marasmus. Er verschrieb ein Mittel namens Abrotanum, worauf sich Umfang von Kopf und Bauch reduzierte und der Zustand sich so verbesserte, dass das Kind eine zweite Chance im Leben erhielt. Dies war der Beginn der Homöopathie in der Familie Jus, der zum Vermächtnis werden sollte. Ein Vermächtnis, das Dr. Mohinder Singh Jus in viel grösserem Umfang weitertrug, sowohl in Indien als auch im Ausland. Neben der Homöopathie war sein Vater auch ein begnadeter Maler. Amarjeet, die ältere Schwester von Dr. Jus, hat klassische indische Musik studiert und ist eine renommierte Sängerin. Dr. Jus hatte beide Gaben bekommen und wurde selbst zu einem aussergewöhnlichen Künstler und Musiker. Er nahm sich immer das Beste seiner Mitmenschen zum Beispiel und entwickelte diese Fertigkeit oder Kunst weiter. Das war das Genie seines Talents, der Ansporn seiner Neugierde, der Antrieb seines Willens und die Kraft seiner Intelligenz.
Die grösste Leidenschaft, der er jedoch nachging, war die Wissenschaft der Homöopathie. Nachdem er die Schule abgeschlossen hatte, besuchte er das Homoeopathic Medical College in Kalkutta und studierte Homöopathie unter der Leitung seines Lehrers und Mentors Dr. B. K. Bose. Dr. Bose war ein strenger Lehrer, aber eine charismatische und mitfühlende Stimme bei der Verbreitung und richtigen Anwendung der klassischen Homöopathie. Mein Bruder hatte einen Meister gefunden, einen gebildeten Gelehrten, bei dem er sich entwickeln und wachsen würde, und dessen Stimme der Leidenschaft und Stärke er zu seiner eigenen machen würde. Mit dem Segen von Dr. Bose gründete der frisch diplomierte Dr. Jus Kliniken in Neu-Delhi, dem Ort seiner Geburt, wo er bis ins Erwachsenenalter gelebt hatte.
Er begann seine homöopathische Laufbahn mit einer privaten homöopathischen Praxis an seinem Wohnort, in der er sein Handwerk verfeinerte und polierte. Die Nachfrage nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten als Homöopath stieg schnell an und so eröffnete er schon bald eine weitere Klinik am Connaught Place. Das war damals, ebenso wie heute, eine der lebendigsten und kosmopolitischsten Adressen der Hauptstadt. Zu behaupten, die Kliniken meines Bruders waren gefragt, wäre eine glatte Untertreibung. Da die Nachfrage so stark war und sich die Empfehlungen seiner Patienten so schnell herumsprachen, arbeitete er buchstäblich sieben Tage die Woche, 12-14 Stunden am Tag. Zu seinen Patienten gehörten sowohl einfache Arbeiter wie auch wichtige hochrangige Politiker und Wirtschaftsführer. Daneben fand er immer irgendwie Zeit, Menschen, die arm oder benachteiligt waren, kostenlos zu behandeln. Er besuchte regelmässig die verarmten Vororte Delhis und behandelte die Menschen dort. Das Sprichwort, dass „deine Arbeit dein Leben ist“, traf auf ihn vollkommen zu. Aber er liebte seine Arbeit, denn das Beste, was wir als Menschen in unserem Leben erreichen können, ist, eine Arbeit zu finden, die auch unsere Berufung ist, und so war es für ihn. Sein Werk war in der Tat zur Berufung seines Lebens geworden.
Als ich mich an seine Lektionen aus meiner Kindheit und an seine anschauliche Beschreibung der Homöopathie erinnerte, beschloss ich ebenfalls, in die Fussstapfen meines Bruders zu treten und die Ausbildung zur Homöopathin zu machen. Ich fühlte mich geehrt, dass ich ihn in seinen Kliniken unterstützen konnte, sei es bei der Patientenberatung, bei der Zubereitung von Arzneimitteln und natürlich bei der Diskussion des Patientenfalls nach der Konsultation. Ich erinnere mich sehr gut an einige, für die damalige Zeit aussergewöhnliche Fälle, die bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben, und an die Bestätigung, dass Dr. Jus nicht nur ein Arzt, sondern ein wirklicher Heiler war.
Wie können wir wertvolle Zeit damit vergeuden, uns vor dem Tod zu fürchten, wenn wir nur so wenig Zeit zum Leben haben?
Erster Fall
Im ersten Fall geht es um Frau S., 50 Jahre alt. Sie war verheiratet und hatte ein Kind. Sie litt an Hämochromatose, allgemein beschrieben als eine Überladung von Eisen im Blut. Eine gefährliche Erkrankung, bei der alle Organe in Mitleidenschaft gezogen werden, was oft zu Komplikationen führen kann. Alle drei Monate musste sie ins Krankenhaus, wo ihr etwa 650 ml Blut abgenommen wurde, um ihren Eisenspiegel zu senken und unter Kontrolle zu halten. Dieses Verfahren verringerte daher auch die Dicke ihres Blutes. Um diesen Prozess weiter zu unterstützen, nahm sie zusätzlich blutverdünnende Medikamente ein. Als Folge der immensen Schmerzen und Unannehmlichkeiten, die durch diese Erkrankung und weitere Beschwerden, auf die wir später noch eingehen, hervorgerufen wurden, benötigte sie viele Schmerzmittel.
Vom mentalen Standpunkt aus gesehen, weinte sie ziemlich leicht, war schnell geärgert und dann sehr nachtragend. Sie sagte zwar, dass sie einem Menschen verzeihen könne, aber das Ereignis nie vergessen würde. Es gab auch eine Neigung zu extremer Reizbarkeit. Zusätzlich und ohne Bezug zu ihrer Blutstörung hatte sie zuvor ihre rechte Extremität auf Ellenbogenhöhe durch einen Autounfall im Alter von 20 Jahren verloren. Nach dem Unfall hatte man im Krankenhaus entdeckt, dass sie die Krankheit der Hämochromatose geerbt hatte. Da sie adoptiert worden war, gab es leider keine Informationen zur Krankengeschichte ihrer Herkunftsfamilie. Um ihren Zustand zu kontrollieren, wurde ihr regelmässig über Jahre hinweg Blut aus den Venen an Armen und Hand entnommen, was zu einer Verletzung und Beschädigung dieser Gefässe führte. Wenn sie jetzt ins Krankenhaus zu den regelmässigen Kontrolluntersuchungen ging, mussten schliesslich die Venen an den Füssen punktiert werden, was sehr schmerzhaft für sie war.
Nachdem Dr. Jus eine detaillierte Anamnese aufgenommen hatte, schrie mein Verstand nach Natrium muriaticum oder Hypericum; zwei Mittel, die für mich am plausibelsten waren und die ich am geeignetsten für diesen Fall hielt. Als Studentin der Homöopathie im ersten Jahr sammelte ich klinische Erfahrungen, indem ich als Assistentin in der Praxis meines Bruders arbeitete und von ihm gecoacht wurde. Ich sass in seiner Nähe und notierte mir alle relevanten Fakten und Informationen. Doch wie er mir später erklären würde schrien die Tatsachen in den Augen meines Bruders weniger nach dem Etikett der Hämochromatose, sondern viel mehr den Schmerz der Arthritis, zu der die Krankheit teilweise beigetragen hatte. Er betrachtete und beobachtete auch die Nervenschmerzen, das Brennen und Kribbeln in ihren Extremitäten, die Unterdrückung ihrer Symptome durch langjährigen Schmerzmittelmissbrauch, ihr mentales Bild und alle anderen relevanten Symptome. Sie litt auch an Coccydynia, Schmerzen im Steissbein, und konnte daher keine langen Strecken fahren.
Er verschrieb ihr vorerst das Mittel Nux vomica C30, zweimal pro Woche für fünf Wochen. Dies sollte allmählich den Missbrauch von Schmerzmitteln während mehr als 20 Jahren antidotieren und die Nervenheilung stimulieren. Ich hatte viele Fragen an ihn, aber seine Antwort war: "Der Körper wurde nicht nur durch ihre Erkrankung, sondern auch durch den jahrelangen Gebrauch von starken Schmerzmitteln, welche bestenfalls ihre Symptome behandelten, vergiftet".
Ich wollte mehr fragen, aber er hob einfach die Hand, um jede weitere Diskussion zu unterbinden, und verschrieb Nux vomica. Er fügte nur hinzu: "Lass uns gemeinsam den Verlauf dieses Falles beobachten, das Rezept wird dann mit der Zeit klarer werden".
Fünf Wochen später kam Frau S. zur Kontrolle. Viele ihrer Symptome waren nun klarer geworden und die Patientin konnte sie etwas besser beschreiben, d.h. die Auswirkungen der Unterdrückung durch die früheren Medikamente waren noch nicht genügend beseitigt. Er verlängerte das Rezept um weitere vier Wochen und bat sie, danach wieder zu kommen. Als sie nach insgesamt neun Wochen zu ihrem dritten Termin erschien, war eine fast vollständige Wende eingetreten. Ein Grossteil der Schmerzen und Neuralgien hatte sich gelegt, die zuvor durch Medikamente hervorgerufen worden waren. Mental zeigte sie nun das Bild des Arzneimittels Pulsatilla. Sie lachte und weinte gleichzeitig, und wo sie vorher ein ziemlich ärgerlicher Mensch gewesen war, hatte sie sich nun beruhigt und war deutlich weniger gereizt. Wichtig war, dass sie auch getröstet werden konnte oder sich durch Trost besser fühlte, was noch nie zuvor der Fall gewesen war. Man konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass sie zu einer anderen Person geworden war. Mohinder Singh Jus entschied sich dann, Pulsatilla C100‘000 zu verschreiben.
Frau S. war seit Beginn der homöopathischen Behandlung nicht mehr im Krankenhaus gewesen, wo bisher alle drei Monate ein Teil ihres Blutes abgelassen worden war. Mein Bruder riet ihr nun, ins Spital zu gehen und die Werte kontrollieren zu lassen, um zu sehen, wie das Ergebnis der Blutanalyse jetzt ausfallen würde. Bevor sie die Praxis verliess, berichtete sie noch, dass sich alle ihre Symptome um weitere drei von zehn Punkten verbessert hätten und das obwohl sie jetzt keine Schmerzmittel mehr nahm. Fast einen Monat nach diesem Termin war der Ferritin- oder Eisengehalt in ihrem Blut auf fast normale Werte gesunken. Das Krankenhaus sah von da an keine Notwendigkeit mehr, der Patientin weiteres Blut zu entnehmen und alle blutverdünnenden Medikamente wurden abgesetzt. Die Behandlung wurde noch eine Zeitlang fortgesetzt, bis Frau S. alle ihre bisherigen starken Medikamente vollständig absetzen konnte. Als nach wiederholten Bluttests keine Anzeichen der Krankheit mehr festgestellt werden konnten, wurde sie für geheilt erklärt.
Dann bat ich meinen Bruder, sein Vorgehen bei der Behandlung zu erläutern. Er erklärte, dass er sich bei der Erstbesprechung notiert habe, dass die Patientin auch einige Eisen- Tonikumsmittel eingenommen habe, nachdem sie beim Autounfall ihr Glied verloren und von ihrer Erkrankung erfahren hatte. In Panik hatte sie danach die Einnahme der Tonika über einen langen Zeitraum unnötig fortgesetzt. Neben ihrem mentalen Bild und anderer wichtiger Symptome hatte diese eine erwähnte Tatsache auf Pulsatilla hingewiesen. Er erklärte, "Pulsatilla ist ein besonders hervorragendes Mittel für den Missbrauch von Eisen-Tonikum".
Im Laufe der Zeit berichtete uns die Patientin, dass sich ihre Beschwerden im Steissbein beruhigt hätten, und sie nun viel längere Strecken fahren könne, was auch auf eine deutliche Verbesserung ihrer arthritischen Beschwerden und Nervenschmerzen zurückzuführen sei. Nachdem ich die endgültigen Ergebnisse des Falles gesehen hatte und Teil dieser unglaublichen Reise der Heilung war, erinnere ich mich, dass ich dachte: „Das ist die Kraft der richtigen Verschreibung in der Homöopathie“.
Zweiter Fall
Im zweiten Fall geht es um die 54-jährige Frau B., verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Ihre Krankheit war ein schwerer Fall von chronischer rheumatoider Arthritis. Mit diesem Zustand hatte sie 15 Jahre lang gelebt, seit der Geburt ihres zweiten Kindes. An dem Tag, an dem sie zu Dr. Jus kam, beschrieb sie sich selbst als verkrüppelt. Sie hatte schwere Arthritis der Hände, Knöchel und Füsse, die sich dadurch in unnatürliche Winkel und Richtungen neigten, wobei die Gelenke verschoben und verlagert zu sein schienen. Mohinder Singh Jus beobachtete die Patientin einfach und ruhig, eine weitere seiner Eigenschaften, die ich nie vergessen werde. Sein einfacher Akt der Freundlichkeit gegenüber dem Wesen, welches vor ihm war, entspannt, ruhig und beruhigend zu bleiben. Kein Blick von Schock oder plötzlicher Abstossung durfte es wagen, in seine Praxis einzudringen. Seine Art war es, den Patienten zuerst zu beruhigen, entspannt zu sein, damit er sich in der Lage fühlte, alle Facetten seiner Krankheit mit ihm zu teilen. Seine Beobachtungen mögen ihn gelegentlich beunruhigt haben, aber für den Betrachter hatte sich sein Ausdruck nicht verändert. Das war die Würde und das Mitgefühl, mit dem er Menschen begegnete. "Die Gelassenheit des Heilers führt oft zu einer Offenbarung der Krankheiten", sagte er einmal.
Beim Aufnehmen der Krankengeschichte fiel im mentalen Bereich nichts Besonderes auf. Dann fragte er die Patientin, ob es ihr im Winter oder im Sommer schlechter ginge. Aufgrund der Kälte sind normalerweise alle arthritischen Symptome im Winter schlimmer, ebenso bei dieser Patientin. Doch sie sagte zufällig: "Auch wenn der Winter eine schlechte Zeit ist, erwähnen Sie bitte keine Gewitter".
Diese merkwürdige Aussage löste eine Rückfrage von Dr. Jus aus. "Ich habe eine solche Empfindlichkeit dafür", erklärte sie, "Sie könnten mich in jeden Raum bringen, und ich weiss, dass es draussen ein Gewitter geben wird, weil sich alle meine Gelenke entzünden und ich starke Schmerzen bekomme. Ich könnte in einem verschlossenen Raum ohne Fenster sein, aber ich würde eine schwere Verschlimmerung bekommen und wissen, dass ein Gewitter gleich beginnt". Bemerkenswerterweise sagte sie, sobald der Sturm aufhöre, beginne sie sich besser zu fühlen und ihre Symptome würden sich verbessern. Schlimmer vor einem Gewitter, besser wenn es nachlässt oder vorbei ist. Ein klassisches Symptom, das er identifizierte und mir später beibrachte, für das Mittel Rhododendron. Er verschrieb das Mittel in C10‘000, drei Dosen, einzunehmen im Abstand von jeweils 15 Minuten.
Bei der nächsten Kontrolle, nach einem Monat, kam Frau B. zurück. Sie war aber nicht mehr die gleiche Person. Die Entzündung hatte sich gelegt und war fast verschwunden. Im Laufe der vergangenen Wochen hatten sich die Gelenke kontinuierlich gebessert. Sie sahen gerader aus, weil die Entzündung und die Schwellung zurückgegangen waren. Da es immer noch ein laufender Heilungsprozess war, hielt Dr. Jus es für angebracht weiter zu beobachten und zu diesem Zeitpunkt noch kein weiteres Mittel zu verschreiben. Sechs Monate später erwähnte die Patientin, dass sie zwar nachts sehr ruhig schlafe, aber tagsüber, in der Zeit von morgens bis spätnachmittags, einige Probleme habe. Dr. Jus hielt es an dieser Stelle für klug, Medorrhinum zu verschreiben, um den Fall abzuschliessen, ein Mittel, das am hervorragendsten wirkt, wenn die arthritische Entzündung tagsüber schlimmer wird. Beim nächsten Termin berichtete sie, dass ihre Symptome jetzt tagsüber und nachts so gut wie verschwunden seien; und dass sie eine grössere Funktionalität in ihren Gliedern erreicht habe, weiter gehen und mehr Aktivitäten mit ihrer Familie durchführen könne und sich in ihrem Geist und in ihrem Körper wohler fühle. Bezeichnenderweise erklärte sie, dass sie sich nicht mehr als verkrüppelt empfinde, da sie sich nach der Behandlung durch Dr. Jus aktiver und nicht mehr behindert fühlte. Eine weitere aussergewöhnliche Kur.
Dritter Fall
Der dritte Fall handelt von einem Mann, dessen Frau eine Familienfreundin von Dr. Jus war. Er war 61 Jahre alt, verheiratet und hatte zwei Kinder. Er litt an heftigen Nackenschmerzen, bedingt durch eine Spondylitis, eine Entzündung der Gelenke in den Wirbelkörpern der Halswirbelsäule. Dieser Fall ist für mich ebenfalls interessant, jedoch aus anderen Gründen als die beiden vorangegangenen Fälle. Erstens, weil ich damals im letzten Jahr meines Homöopathiestudiums war, und zweitens, weil dies vielleicht der einzige Patient war (von dem ich wusste, aber ich bin sicher, dass es weitere solche gab), der von seiner Partnerin gezwungen werden musste, eine Behandlung bei einem Homöopathen wahrzunehmen, der in diesem Fall zufälligerweise Dr. Jus war.
Seine Frau war eine langjährige Freundin der Familie und hatte persönlich von der homöopathischen Behandlung profitiert. Ihr Mann war jedoch entschiedener Gegner der Homöopathie und glaubte, sie sei wirkungslos. Seine Frau musste ihn überreden sie zu begleiten, während sie vorgab sich mit Dr. Jus in seiner Klinik wegen eines kleinen medizinischen Problems zu treffen. Stattdessen enthüllte sie ihm im Wartezimmer, dass es eigentlich darum ging, dass Dr. Jus ihn untersuchen sollte. Zuerst war der Patient sehr wütend und protestierte. Seine Frau schaffte es jedoch, ihn zu überreden, die Behandlung ihretwillen wenigstens einmal zu versuchen. Als er Dr. Jus und mich traf, erläuterte er, dass er ziemlich starke Schmerzen im Hals- und Schulterbereich auf der rechten Seite hatte, von wo aus es den ganzen Arm bis zu seiner Hand herunterstrahlte. Dort würden die Schmerzen auch zu Taubheitsgefühl und Kribbeln führen. Diese Beschwerden waren zu diesem Zeitpunkt in seinem Leben so konstant, dass er sie fast als normal akzeptiert hatte und nur versuchte, irgendwie damit zu leben, einschliesslich der damit verbundenen Einschränkungen. Er war nicht in der Lage, seinen rechten Arm über seinen Kopf zu heben. Bislang hatte er viele konventionelle Behandlungen erhalten, jedoch ohne hilfreiche oder dauerhafte Verbesserung. Als Dr. Jus sah, dass der Patient durch die Konsultation angespannt war, fragte er, was sein Lieblingsgetränk sei. Die Antwort kam: "Tee".
Er bestellte sofort Tee für seinen Pati enten, dessen Frau und sich selbst. Als er sah, wie sich der Patient bei einer Tasse Tee sichtbar entspannte, fragte er ihn: "Was sind Ihre Symptome, können Sie sie näher beschreiben?"
Er erzählte, dass es sich um einen Streifenschmerz im rechten Deltabereich handelte, der manchmal von seinem Hals ausging, über seine rechte Schulter und weiter hinunter zu seinen Fingerspitzen strahlte.
"Fühlen Sie sich besser durch Wärme in diesem Bereich"? fragte Dr. Jus. "Etwas besser, ja", war die Antwort, "Aber egal, was ich tue, der Schmerz kehrt schliesslich zurück und geht nicht weg".
Der Tee war bis dahin ausgetrunken worden und der Patient bat um ein Glas Wasser, welches er ebenfalls bekam. Wie bereits erwähnt, war dies mein letztes Jahr an der Universität, und ich hatte Jahre damit verbracht, neben meinem Bruder zu arbeiten und ihn und seine Methoden zu beobachten. Er blickte dann zu mir hinüber und begann, mich mit einem leichten Lächeln und einem fragenden Blick anzuschauen. Ich erwiderte das Lächeln und fragte einfach: "C30 oder C200"?
"C30 für den Moment", war seine Antwort. Der Patient und seine Frau waren kurzzeitig ratlos, als ich aufstand und den Raum verliess. Ich kehrte kurz darauf mit einer Dosis Kalmia C30 zurück, die ich dem Patienten verabreichte. Ich schrieb den Namen des Mittels auf einen Zettel und gab es an meinen Bruder weiter, der beim Lesen lächelte und zustimmend nickte. Dann sprachen wir weiter über verschiedene Themen. Dr. Jus hatte das Thema gewechselt, sprach mehr als Freund mit beiden und fragte sie nach ihrem Leben im Allgemeinen. Etwa 20 Minuten später, als sich der Patient nach vorne beugte, um sein leeres Glas auf den Tisch zu stellen, weiteten sich die Augen des Mannes plötzlich. Er stand auf und rief Dr. Jus zu: "Was haben Sie getan?" "Ich habe keine Schmerzen - ich habe keine Schmerzen!" wiederholte er.
Er hob seinen Arm an und bemerkte, dass er ihn weiter über seine Schulter heben konnte, als er es seit langer Zeit getan hatte. Der Patient wollte buchstäblich seine Erleichterung von diesem Zustand vom Dach des nächstgelegenen Hauses aus verkünden - dass er seit mehr als 15 Jahren gelitten hatte, ohne Erfolg durch die konventionellen Behandlungen. Was der Patient nicht wissen konnte, war, dass er nur ein Patient in einer Reihe von buchstäblich Tausenden war, die von Dr. Mohinder Singh Jus behandelt und geheilt worden waren.